Any Other – Two, Geography

Any Other – Two, Geography

Adele Nigro aka Any Other – Die Anführerin einer neuen italienischen (Indie) Musik

Vö: 14.09.2018 42 Records iTunes LP kaufen

Der italienische Rolling Stone veröffentlichte kürzlich einen Artikel mit der Überschrift: „Die beste Musikerin Italiens heißt Adele“. Gemeint war Adele Nigro, Multi-Instrumentalistin und Sängerin der Band Mailänder Indie-Folk-Band Any Other, die am 14. September mit „Two, Geography“ über 42 Records ihr zweites Album veröffentlichten.

Ein „italien showcase“ auf dem anstehenden Reeperbahn Festival spricht von einer neuen Bewegung an Künstlern und Künstlerinnen, die italienische Musik völlig neu erfinden.

Was diese Neuerfindung ausmacht, darauf wird nicht weiter eingegangen. Fest steht, es wird – anders als bei den Eros Ramazottis und Tiziano Ferros der Vergangenheit – auf Englisch gesungen, ohne dass Emotionen in den Hintergrund treten. Diese werden nur nicht über einen fast schon lächerlich übertriebenen Pathos transportiert, sondern auf eine ganz neue, verletzliche, ehrliche und teilweise erschreckend nahbare Art.

Aquarama, The Pier und GIUNGLA treten im Rahmen des besagten italienischen Showcases beim Reeperbahn Festival auf.

Die großartigen Soviet Soviet sowie Birthh sollten hier ebenso Erwähnung finden und seien dringend empfohlen. Unangefochtene Anführer all dieser neuen italienischen Bands sind allerdings: Any Other.

Any Other Kopf und Songwriterin Adele Nigro liefert mit „Two, Geography“ ihr bisheriges Meisterstück ab. Sie schrieb alle 10 Songs des Albums komplett selbst, nicht nur für die Instrumente, die sie selbst eingespielt hat – Gitarren, Klavier und Keyboard, Tenorsaxofon und Schlagzeug – sondern auch für Instrumente wie Baritonsaxofon oder Geige, die sie von Gastmusikerinnen einspielen ließ. Insgesamt wuchs die Any-Other-Studioband so auf eine Zahl von sieben Musikern an, zwei Männer, fünf Frauen. Das Debütalbum „Silently. Quietly. Going Away“ wurde 2015 noch komplett als Trio eingespielt.

Aber nicht nur die Anzahl der Mitmusizierenden hat sich in den letzten drei Jahren bei Any Other erhöht, auch die Musik selbst ist gewachsen.

Während der Vorgänger noch in seiner schrubbeligen Slackerhaftigkeit vergleichbar war mit Allison Crutchfields Band Swearin, so erinnert „Two, Geography“ in seiner ausgefeilten Reife und Stimmigkeit eher an Katie Crutchfields Waxahatchee. Diese Reife hat sich Nigro hart erarbeitet. Nicht nur, dass sie sich, sobald eine Tour oder eine Albumproduktion mit Any Other abgeschlossen ist, anderen musikalischen Projekten anschließt, nein, ich bezweifle auch stark, dass eine zweite italienische Band in den letzten drei Jahren so viele Konzerte gespielt hat wie Any Other. Bei den Kollegen von thepostie.de berichtet sie: „Es gab diese Zeit in der ich wie eine Bekloppte getourt habe und mich irgendwann von mir selbst und meinem Alltag distanziert habe.“

Ich hatte das Vergnügen, den Ehrgeiz und die Musikverliebtheit Nigros mit eigenen Augen beobachten zu dürfen.

Any Other spielten im vergangenen Oktober ein gemeinsames Konzert mit Dear Reader im idyllisch-bunten Cafe Mokka im schweizerischen Thun. Am Ende des Abends wirkte die Band müde und von der langen Tour ausgelaugt. Doch wo andere Bands an der Bar versacken oder es sich im Hotelzimmer-Bett gemütlich machen, setzten sich Any Other ans Klavier und spielten sich so lange Melodien von bekannten und weniger bekannten Songs vor, bis der Besitzer den Laden zuschloss.

Die Mischung aus Gitarre, Schlagzeug, Klavier, Keyboard, Geige und Saxofonen lässt die Indie-Folk-Platte „Two, Geography“ immer wieder ins Jazzige abdriften, ohne dass es beim Zuhören unangenehm auffällt.

Auch die Art und Weise wie Nigro ihre Stimme einsetzt sowie ihr Gitarrenspiel weisen im Verlauf der Platte eine unglaubliche Bandbreite auf. Nur die persönlichen Texte von zerbrechenden Beziehungen oder dem Gefühl, allein und ungeliebt zu sein, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Album. Beispiel gefällig?

Traveling hard / Too much away for someone at my age / Guess that I will fake it / Till I can’t make it anyway, so / Last time I cried / Was in the morning of the dreary hotel room.“ (Traveling Hard)

Der Song „Walkthrough“ ist ein songwriterischen Meisterwerk und wurde vollkommen zu Recht als Single veröffentlicht. Thelineofbestfit schwärmt beispielsweise: „masterclass in exploring the rollercoaster journey of living in a human mind and dealing with the aftermath of a relationship that has gone sour.“ Dirk Wagner von der Süddeutschen Zeitung bezeichnet „Walkthrough“ wahnsinnig treffend als einen Song, durch den „eine akustische Gitarre mit dem Gleichlauf eines durch die Landschaft ratternden Zuges schrammelt. Am Horizont jener Landschaft schimmern ganz dezent auch andere Gitarrenläufe. Schlagzeug-Attacken stören plötzlich den Gleichlauf. Klavierläufe werden auf eine Weise ins Bild getupft, als erführe der vor Jahren verstorbene Fernseh-Maler Bob Ross seine musikalische Reinkarnation. Und immer wieder behaupten sich Saxofone. Geradezu Mantra-artig singt Nigro derweil, dass, egal, wie hart man sie schlagen, schubsen, ficken oder lieben würde, sie eh nichts fühlen würde.“ Fertig ist die Any-Other-Welt.

„Capricorn No“ ist ein bluesiger Pop-Song, bleibt in seiner Thematik aber bei bitterbösen Beziehungsthemen. Über eine Geigenmelodie singt Nigro Zeilen wie:

„Do you really think you can survive in / An abusive relationship? / Does he really want you to feel fine / Or just to dry out your energies?“

Musik scheint bei der Mailänder Autodidaktin ein therapeutisches Mittel zu sein.

Bei thepostie.de verrät Nigro über St. Vincents „Year of the Tiger“: „Ich mag einfach Frauenstimmen, egal ob singend, oder sprechend, die offen über Depression und mentale Krankheiten sprechen, weil es mir das Gefühl gibt nicht alleine zu sein. Es ist eine Möglichkeit sich repräsentiert zu fühlen und sich in anderen Personen wiederzufinden ohne, dass man seine Gefühle auf die eines Mannes umdeuten muss. In manchen Situationen sind die Gefühle einer Frau einfach nicht mit denen eines Mannes zu vergleichen.“ Sollte Adele Nigro mit ihrer Band Any Other weiterhin so bewegend gute Musik abliefern wie auf „Two, Geography“ wird sie eventuell bald in einem Atemzug mit St. Vincent genannt werden.

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Von Veröffentlicht am: 18.09.2018Zuletzt bearbeitet: 02.12.2018961 WörterLesedauer 4,8 MinAnsichten: 931Kategorien: Alben, KritikenSchlagwörter: , , , , , , , 0 Kommentare on Any Other – Two, Geography
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Über den Autor: Thomas Lingstädt

Hat fürs Mainzer Campusradio gearbeitet und für verschiedene Musikblogs wie roteraupe.de, indiestreber.de oder schallhafen.de geschrieben. Betreibt mit drei Freunden das "Liebhaber"-Label My Favourite Chords. Hört auch auf Streaming-Portalen Alben vom ersten bis zum letzten Song durch.

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